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41. Am Bitterbach

 

Septimus

Das Tal des Bitterbachs war ein kalter, trostloser Ort und lag eingezwängt zwischen felsigen Hügeln, an deren Fuß der Geist der Vergeltung spukte, eines Dunkelschiffs, das dort einst seinen Liegeplatz hatte. Ein paar verkrüppelte Bäume klammerten sich noch kraftlos an die kargen Hänge, doch die meisten hatten den Kampf aufgegeben und waren ins Wasser gestürzt, wo sie vermoderten und eine ideale Brutstätte für die berüchtigte Bitterbachwasserschlange bildeten – eine scheußliche schwarze Otter mit giftigem Schleim – und deren ebenso reizenden Schmarotzer, den Langen Weißegel. Im Sommer bevölkerten Schwärme von Stechmücken die Ufer des Baches, und ihre Abwesenheit im Winter wurde mehr als wettgemacht durch die winzigen Springenden Holzkäfer, die an Land kamen, sobald das Wasser kalt wurde. Holzkäfer konnten fast zwei Meter hoch springen und schlugen ihre Zangenkiefer in jedes Fleisch, das sie fanden, und begannen zu kauen. Es gab nur eine Möglichkeit, sich ihrer zu entledigen: Man musste ihnen den Rumpf abreißen und warten, bis die Zangenkiefer abstarben. Manchmal kauten die Köpfe noch tagelang weiter, bis sie abfielen.

Verstreut zwischen den schroffen Felsen, mit denen die Hänge übersät waren, sah man eine paar Steinhütten, einst erbaut von Einsiedlern, Außenseitern und Sonderlingen, die von einem Haus am Wasser träumten, offensichtlich aber völlig den Verstand verloren hatten. Inzwischen standen die meisten Hütten leer, doch Septimus wusste, dass zumindest eine noch bewohnt war.

Wie nicht anders zu erwarten, kamen nur selten Besucher ins Bitterbachtal. Allerdings lag das nicht unbedingt an dem Geisterschiff, an der unfreundlichen Tierwelt oder an dem strengen Fäulnisgeruch, der in der Luft hing. Der eigentliche Grund war, dass der Zugang zum Tal durch den berüchtigten Bodenlosen Strudel versperrt wurde.

In der Burg kannte jedes Kind die Geschichte des Bodenlosen Strudels, der in grauer Vorzeit bei einem Zweikampf zwischen zwei Zauberern entstanden war. Wie es hieß, hatte jeder der beiden Zauberer das Wasser aufgewühlt und aufgepeitscht, um den anderen darin zu ertränken. Sie umkreisten einander immer schneller und schneller, bis irgendwann beide in die Tiefe gezogen wurden und nie wieder auftauchten. Jedermann wusste, dass der Strudel bis zum Mittelpunkt der Erde reichte, und manche glaubten sogar, er käme auf der anderen Seite wieder heraus.

Von der Burg aus wurden gelegentlich Tagesausflüge zum Bitterbach unternommen. Ein solcher Ausflug war ein beliebtes Geschenk zum dreizehnten Geburtstag. Nach einem Abstecher ins Bitterbachtal, wo man einen Blick auf die Vergeltung zu erhäschen hoffte, fuhren die Boote, voll besetzt mit aufgeregt kreischenden Jugendlichen, um den Strudel herum. Allerdings standen diese Boote unter dem Kommando erfahrener Skipper, die genau wussten, welcher Sicherheitsabstand zum Strudel einzuhalten war, und die rechtzeitig erkannten, wenn ein Boot in den Sog des Strudels zu geraten drohte. Nur die größten und schwersten Schiffe, wie die Vergeltung eines gewesen war, konnten dicht an ihm vorbeifahren.

Nicko wusste mit Gewissheit, dass die Annie nicht dazu zählte. Und dass er nicht zu den Skippern gehörte, die den erforderlichen Sicherheitsabstand kannten. Er konnte nur hoffen, dass er es rechtzeitig merken würde, wenn sie zu dicht an den Strudel gezogen wurden. Und entsprechend nervös war er, als die Felsnasen, welche die Einfahrt zum Bitterbach markierten, in Sicht kamen – aber nicht so nervös wie Septimus.

Septimus saß allein im Bug des Bootes, direkt hinter der vorderen Segelstange mit ihrem großen roten Segel, das sich im kalten Wind blähte. Nie zuvor in seinem Leben, nicht einmal bei den Kämpf-oder-stirb-Nachtübungen im Wald, hatte er solche Angst gehabt. Er blickte auf das kleine Stück Papier, auf dem in Marcellus Pyes gestochener Handschrift Fragen und Antworten aufgelistet waren, die er sich einzuprägen versuchte. Sie ließen ihn an die Merkblätter denken, die er bei der Jungarmee hatte auswendig lernen und dann vor jeder Übung mit denen anderen Jungen im Chor hatte herunterleiern müssen. Diese Erinnerung bestärkte ihn in dem Gefühl, dass er dem Untergang geweiht war, aber sie führte auch dazu, dass er in die Verhaltensweisen seiner Jungarmee-Zeit zurückfiel und sich ganz aufs Überleben konzentrierte und nichts anderes. Und so blickte er jetzt, hinter der Segelstange sitzend, stur auf das eisengraue Wasser und murmelte leise die Antworten vor sich hin, die er geben musste, falls er in den Finsterhallen ausgefragt werden sollte.

»Wer bist du? Sum.«

»Wie bist du? Böse.«

»Was bist du? Der Lehrling des Lehrlings des Lehrlings DomDaniels.«

»Was willst du hier? Ich suche den Lehrling DomDaniels.«

Septimus war so vertieft, dass er gar nicht bemerkte, wie Jenna und Nicko links und rechts neben ihn traten. Sie warteten geduldig, bis sein Gemurmel abbrach, dann sagte Jenna: »Wir kommen mit.«

Septimus sah sie entgeistert an. »Was?«

»Nicko und ich ... wir haben beschlossen, dich zu begleiten. Wir wollen nicht, dass du alleine gehst.«

Jenna bewirkte damit das Gegenteil dessen, was sie beabsichtigt hatte – mit einem Mal fühlte sich Septimus vollkommen allein. Er begriff, dass die beiden keine Ahnung hatten, wie unerfüllbar ihr Vorschlag war. Er schüttelte den Kopf.

»Jenna, das geht nicht. Es ist unmöglich. Glaub mir.«

Jenna sah den Ausdruck in seinen Augen. »Gut... ich glaube dir. Aber wenn wir schon nicht mitkommen können, dann möchten wir wenigstens wissen, wohin du gehst. Marcellus weiß es, sogar Simon weiß es. Ich finde, wir haben ein Recht darauf, es auch zu erfahren.«

Septimus antwortete nicht. Er starrte aufs Wasser und wünschte sich, Jenna und Nicko würden ihn in Ruhe lassen. Er musste sich auf sich selbst konzentrieren.

Aber Jenna ließ ihn nicht in Ruhe. Sie fasste unter ihren Hexenmantel, zog die Die Königinnenregeln hervor und schlug die fleckige, abgegriffene Seite auf, die sie so gut kannte. Sie hielt sie Septimus unter die Nase.

»Lies!«, sagte sie und deutete mit dem Finger auf einen Abschnitt.

Widerwillig schielte Septimus auf die winzige Schrift. Dann gab er nach. Er zückte die Lupe, die ihm Marcia zum Geburtstag geschenkt hatte, und hielt sie über die Seite. Er las:

»Die P-i-W hat das Recht, über alles unterrichtet zu werden, was das Wohl und Wehe von Burg und Palast angeht. Der Außergewöhnliche Zauberer (oder in dessen Abwesenheit der Außergewöhnliche Lehrling) ist verpflichtet, alle Fragen der P-i-W umgehend, umfassend und wahrheitsgemäß zu beantworten.«

Septimus hatte den Kopf so voll, dass er nicht gleich begriff, was er da las – dann fiel es ihm wieder ein. Er erinnerte sich an den Morgen seines Geburtstags, der jetzt so weit weg schien. Grinsend dachte er an Marcias Bemerkung über »dieses vermaledeite Buch mit der klitzekleinen Schrift, das ein Fluch im Leben jedes Außergewöhnlichen Zauberers ist«. Das also hatte sie damit gemeint. Und wie er nun an den Zaubererturm und die Burg dachte, ohne den schwarzen Nebel, und Marcias wunderschönes Geburtstagsgeschenk in der Hand hielt, da kam er sich plötzlich nicht mehr ganz so allein vor. Er fühlte sich wieder als Teil des Ganzen, und er war darüber erleichtert. Er wollte Jenna sagen, wohin er ging, er wollte, dass sie an dem, was er tat, teilhatte. Auch wenn sie nicht mitkommen durfte, so konnte sie doch an ihn denken, während er dort war, und für ihn hoffen, dass er wohlbehalten durch die Finsterhallen auf die andere Seite gelangte. Ob er auch Nicko einweihen durfte, wusste er nicht recht, aber das war ihm jetzt egal.

Und so begann er, als sie sich dem Bitterbach näherten und auf das aufgewühlte Wasser blickten, das den Bodenlosen Strudel ankündigte, Jenna und Nicko zu erzählen, wie er Alther finden und durch das Verlies Nummer Eins in die Burg zurückbringen wollte. Er erklärte ihnen, dass er einen Dunkelschleier habe und sie sich deshalb keine Sorgen um ihn zu machen bräuchten. Und obwohl er selbst nicht daran glaubte, sagte er zu ihnen, dass schon alles gut gehen werde und sie sich bald wieder sehen würden. Als er geendet hatte, schwiegen die beiden anderen. Jenna wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, und Nicko räusperte sich.

»Wir werden dort auf dich warten, Sep«, sagte Jenna.

»Vor dem Verlies Nummer Eins«, fügte Nicko hinzu.

»Nein, das dürft ihr nicht.«

Jenna schlug ihren besten Prinzessinnenton an. »Nicko und ich werden am Eingang von Verlies Nummer Eins auf dich warten. Nein, sag jetzt nichts. Mit meinem Hexenmantel kommen wir durch das Dunkelfeld. Du bist bei dieser Sache nicht allein. Verstanden?«

Septimus nickte. Sein Hals war wie zugeschnürt.

In diesem Augenblick rief Rupert: »Nicko, es geht los!«

Nicko sprang auf. Er spürte den Sog der Strömung unter der Annie, und das Flattern der Segel verriet ihm, dass der Bug in den Wind gezogen wurde und das Boot langsamer wurde – sie trieben auf den Gischtnebel über dem Bodenlosen Strudel zu. Nicko rannte nach hinten zum Heck, entriss Rupert, der kein geborener Schiffer war, die Ruderpinne und schrie: »An die Ruder! Alles an die Ruder!«

Sarah, Simon, Lucy und Rupert holten die vier langen Ruder der Annie vom Kajütendach, verteilten sich auf die beiden Seiten des Bootes und tauchten sie ins Wasser. Quälend langsam brachten sie das Boot zum Stehen, bevor es dem bodenlosen Strudel zu nahe kam.

Septimus stand auf. »Ich muss jetzt los, Jenna«, sagte er. »Ich bringe sonst alle in Gefahr.«

»Ach, Sep!«

Septimus nahm Jenna in die Arme, schob sie aber schnell wieder von sich. »Dieser Hexenmantel hat es wirklich in sich. Er prickelt, wenn ich ihn berühre.«

Jenna war entschlossen, das von der positiven Seite zu sehen. »Schön. Das bedeutet, dass er voller Hexenzauber ist. Er wird Nicko und mich sicher durch die Burg bringen.«

»Richtig.« Septimus zwang sich zu einem Lächeln. »Wir sehen uns dann dort.«

»An der Tür zu Verlies Nummer Eins. Wir werden auf dich warten. Wir werden dort sein, das verspreche ich.«

»Ja, ist gut. Ich muss jetzt zu Marcellus.«

»Ja. Bis dann, Septimus.«

Septimus nickte und ging übers Deck nach hinten, vorbei an Simon und Lucy, die wie traurige Möwen auf dem Kajütendach hockten.

»Viel Glück, Sep«, sagte Lucy.

»Danke.«

Simon hielt ihm einen kleinen Charm aus schwarzem Metall hin. »Nimm den, Septimus. Er wird dich durchschleusen.«

Septimus schüttelte den Kopf. Es fiel ihm schwer, in diesem Augenblick ein Hilfsangebot abzulehnen, selbst von Simon. Aber er blieb fest. »Nein danke. Ich nehme von niemandem Sicherheits-Charms an.«

»Dann lass dir einen Rat geben: Halte dich immer links.«

Marcellus tauchte gerade aus der Luke auf, als Septimus die Kajüte erreichte.

»Es wird Zeit, Lehrling«, sagte er mit einem nervösen Blick auf Sarah. Er hatte soeben ein anstrengendes Gespräch mit ihr geführt und ihr einzuschärfen versucht, dass sie Septimus gehen lassen müsse, ohne ihn aus der Fassung zu bringen. Er war sich nicht sicher, ob sie das beherzigen konnte.

Sie konnte – so einigermaßen. Sie nahm ihren Jüngsten verzweifelt in die Arme. »Oh, Septimus! Sei vorsichtig.«

»Ganz bestimmt, Mom«, sagte Septimus. »Wir sehen uns bald wieder. In Ordnung?«

»In Ordnung, mein Schatz.« Damit rannte Sarah nach unten in die Kajüte.

Nicko und Rupert holten das kleine Beiboot vom Mast herunter und setzten es, die Leine fest in den Händen, ins Wasser. Das runde Boot, das aus leichtem Weidengeflecht bestand und mit Häuten bespannt war, tanzte auf der Wasseroberfläche wie ein Blatt. Septimus wusste, dass alle außer Sarah ihn beobachteten, und so rang er sich ein Lächeln ab und kletterte die Leiter hinab ins Boot.

Nicko reichte ihm das einzige Paddel. »Alles klar?«, fragte er heiser.

Septimus nickte.

Nicko hatte das Gefühl, seinen kleinen Bruder dem Tod zu überlassen, als er die Leine ins Boot warf. Das Schiffchen löste sich von der Annie, trieb ohne bestimmte Richtung davon und schaukelte fröhlich auf den Wellen wie bei einer sommerlichen Ruderpartie auf einem ruhigen See. Nach einer Weile begann es sich zu drehen, ganz langsam noch, als wäre es von einer sanften Brise erfasst worden, und bewegte sich auf die Dunstglocke in der Mitte des Strudels zu. Dann nahm es Fahrt auf wie ein Karussell und wurde, sich schneller und immer schneller drehend, zum Rand des Wirbels gezogen.

Von da gab es kein Zurück mehr. So plötzlich, dass allen auf der Annie ein Schreckensschrei entfuhr, wurde das Boot in den Sog des Wirbels gerissen und jagte in immer engeren Bahnen im Kreis herum, und Septimus’ grüner Mantel bildete die Achse, um die es wie ein Kreisel wirbelte. Ein letztes Mal beschleunigte das kleine schwarze Boot, dann kippte es in das Auge des Strudels und war verschwunden.

Auf dem Wasser war es still. Auf der Annie war es still. Keiner konnte glauben, was sie soeben getan hatten.

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